GALLI

Galli
Works 1989-1993

15.05.2022 – 14.08.2022

 

English Version

In Zusammenarbeit mit der Galerie PSM und der Galerie brunand brunand aus Berlin präsentieren wir im Kornspeicher auf dem Gut Kerkow ausgewählte Werke von Galli aus den Jahren 1989 – 1993.

„Die meiste Zeit brauche ich zum Sehen, das Malen geht dann ruckzuck“1

Notizen zum Werk der Künstlerin Galli

Hannelore Paflik-Huber

Die Kunstwerke der 1944 geborenen Künstlerin Galli werden von Figuren bestimmt, oft sogar von nur einer Figur. Sie tragen keine charakteristischen Züge und sind keiner bestimmten Person zuzuordnen. Es ist offensichtlich, dass alle Abgebildeten damit die Künstlerin selbst wiedergeben. Mit ihren Gestalten, die im Mittelpunkt des Bildaufbaues stehen, deutet sie eine Haltung an, die emotional aufgeladen ist. Die Körper dominieren als Agierende das Bildgeschehen. Galli stellt ihre körperliche Konstitution in den Mittelpunkt, indem sie die Protagonist:innen in verrenkten Posen zeigt. Dabei sind Arme und Beine der eigentliche Mittelpunkt des Bildgeschehens. Sie gestikulieren, sind proportional übergroß oder langgezogen und bestimmen die Bilddramaturgie. Galli verdichtet ihre Bilder, indem sie Vieles ausspart, um das Wesentliche einer emotional aufgeladenen Aktion zu zeigen.

Die Titel lassen sich nicht auf direktem Wege entschlüsseln. Oft haben sie keinen direkten Bezug zum Dargestellten. Die Phantasie wird durch den Bildtitel ein zweites Mal angeregt. Sie stammen manchmal von zufällig im Radio Gehörtem. Die Worte oder Satzfetzen werden nach der Fertigstellung der jeweiligen Arbeit dem Bild hinzugefügt. Es sind Fragmente aus den Nachrichten, sprachliche Bruchstücke aus einer gehörten Bachkantate, Teile von Gedichten oder Zitate aus der Radioreklame. So kommen Titel wie „desinfiziertes Geheimnis; nur nicht die Wut verlieren; „Windschwach, unerwünschte Wirkung“ zustande.

Die Kunstgeschichte möchte Galli in die Tradition der Berliner Expressionisten, wie Rainer Küchenmeister, Walter Stöhrer, ihren Lehrer Martin Engelmann und den Freund Max Neumann stellen. Das belegt eine Herkunft, die das Expressive als Stilmittel und das Figurative als Thema begründet. Die Nähe zu verschiedenen Künstlerkollegen erklärt jedoch nicht viel, denn die Bildwelten Gallis sind mit nichts zu vergleichen. Was zeichnet ihr eigene unverwechselbare ästhetische Sprache aus? Mit sicher gesetzten Strichen umschreibt sie einen Körper oder einen Zusammenschluss von Körpern. Damit gibt sie den Befindlichkeiten eine besondere Aussagekraft. Nebeneinander präsentiert, zeigen die Bilder von Galli die Komplexität, die hinter den Figuren steckt. In der Arbeit „oft sieht man die Zitrone kaum“ von 1989 wird mit wenigen Strichen eine intime Umarmung gezeigt. Die Verbindung zum Titel ist die dominante Farbe Gelb. In manchen Werken schreit die Farbe nach unserer Aufmerksamkeit. Auch hier stellt sich die Frage, wohin geht die Bewegung? Für wen ist der jeweilige Blumenstrauß bestimmt? Arme und Beine simulieren pure Bewegung. Gleichzeitig ist der Zusammenschluss der Körper eine bewusste Entscheidung, einen bestimmten, intimen Moment wiederzugeben, der wie eingefroren erscheint. Für welche Richtung wird sich die Figur entscheiden? Das Gewühl der Arme und Beine zeigt Zerrissenheit und Kompaktheit zugleich. Es ist nie nur das Eine, es ist immer auch das Andere. Nichts ist eindeutig. Ihre Sprache bleibt vieldeutig und ist oft in ein und demselben Bild gegensätzlich und konträr. Galli deutet in ihrer Ästhetik derart an, dass auch wir in Extremen das Extreme denken können. Sie will sich nicht festlegen, sie muss sich nicht festlegen, womit sie uns die Freiheit gibt, den Figuren verschiedene, sogar entgegengesetzte, Gefühle zuzuschreiben.

In den 1980er und 1990er Jahren, in denen die Maler das Kunstfeld mit ihren Neuinterpretationen expressionistischer Stilmittel dominierten, war sie als Frau und als Kleinwüchsige dazu prädestiniert, das große Thema der Kunst, den Körper neu zu definieren und sie erreichte dies durch eine unverwechselbare Bildsprache. Galli versteht es vorzüglich, den Gegensatz zwischen Offenheit und Entschiedenheit in ein und derselben Figur zu visualisieren. Sie kann bei ihrem Werk gleichzeitig für Spontanität und Bedachtheit stehen. Es wird etwas festgehalten, was doch entfliehen möchte.

Auch als Protagonistin in dem berühmten Film „Freak Orlando“ aus dem Jahr 1981 von Ulrike Ottinger verkörperte sie das Groteske der Geschichtsschreibung. Hier spielte sie die Chronistin. Die Filmemacherin besetzte in dem Film die Rollen mit Kleinwüchsigen, Siamesischen Zwillingen und Frauen ohne Unterleib. Alle haben eine gleichberechtige Stellung in einem Film, der in fünf Episoden das Thema Orlando interpretiert. Die Chronistin der Szenen spielt die in einem historischen Amtsschreiber-Kostüm gekleidete Künstlerin Galli. In ihrem künstlerischen Werk spielt das Burleske, die Leidenschaft, die Ambivalenz zum Tragischen wie zum Unergründlichen eine „gewichtige“ Rolle. Ihr Mittel der Dramaturgie ist die Dynamik, die Pathetik und die Unbestimmtheit. Die Bewegungsmomente dominieren in ihren Arbeiten. Gleichzeitig gibt es ein Zentrum, auf das bildtechnisch alles zuläuft, oder von dem aus vieles weglaufen möchte. Die Dialektik des Themas findet ihre subtile Entsprechung in den Figuren.

Peter Anselm Riedl findet hierfür im Katalog der Villa Massimo, Florenz, 1990 die treffenden Worte: „Immer wieder wird Körperlichkeit als etwas thematisiert, das in seiner Komplexität das Fassungsvermögen bis zum Bersten beansprucht.“2 Auf Gut Kerkow können wir dies in den intimeren Zeichnungen, den Tageswerken, sehen. Sie symbolisieren eine Offenheit der Erzählung, wobei der Stift schnell und sicher gesetzt wird. Daneben sind die Bilder, die Gouachen, die mit Bleistift, Farbstift, Aquarell und Öl auf Nessel oder Karton gemalt, verdichtete Angebote, in die Phantasiewelt von Galli einzutreten.

Im Gegensatz zu einigen ihrer Malerkolleg:innen, die in den 1980er Jahren ihre Bildsprache gefunden haben und diesem Zeitgeist größtenteils bis heute verhaftet geblieben sind, haben die Werke von Galli auch heute noch ihre große Wirksamkeit. Das südamerikanische Kurator:innen Team der Berlin Biennale 11, 2020 zeigte die Bilder der Künstlerin Galli und es war fantastisch zu sehen, wie diese in ihrer Dichte eine heute noch gültige bildliche Entsprechung für die Themen unserer Gegenwart darstellen. Die Rätsel und die Geheimnisse um eines der großen Themen der Kunst, des Körpers, sind noch nicht gelöst oder enthüllt. Die unverwechselbare Ästhetik von Galli ist 2022 immer noch so dicht und überzeugend, wie in den Entstehungsjahren.

Galli (*1944 in Heusweiler, DE – lebt in Berlin, DE)
Inmitten des turbulenten, hedonistischen Geistes der Westberliner Kunstszene in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren lehnte Galli die strenge Bildsprache der Konzeptkunst ab und wandte sich erzählerischen Formen und subjektiven Erfahrungen zu. Fragmentierte Objekte, menschliche Gliedmaßen und amorphe Kleckse werden in ihren Zeichnungen und Gemälden spielerisch miteinander verschmolzen. In einer Generation, die von den (männlichen) Malern der New Fauves dominiert wurde, schlug Galli entschlossen ihren eigenen Weg ein. Grundlegend für ihr Werk sind die physischen und psychischen Qualen ihrer Figuren und ihr gewandtes intellektuelles Spiel mit Literatur und Sprache. Galli wurde in Deutschland zu einer prominenten Vertreterin ihrer Generation und hatte Einzelausstellungen in zahlreichen Galerien sowie Institutionen, u.a. im Städtischen Bodensee-Museum in Friedrichshafen (1985), im Salzburger Kunstverein (1989) und in der Stadtgalerie Saarbrücken (1992). Im Jahr 2020 waren ihre Arbeiten im Rahmen der 11. Berlin Biennale in den KW zu sehen, und 2022 hatte sie ihre erste Einzelausstellung in der Galerie brunand brunand, Berlin. Sie war Trägerin des Will-Grohmann-Preises der Akademie der Künste, Berlin, des Villa- Romana-Preises, Florenz, und des Albert-Weisgerber-Preises, St. Ingbert. Von 1992-2005 war sie Professorin an der FH Münster.

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1 Galli in einem Gespräch mit Marianne Meinhold, in: Galli, Ausstellungskatalog, Galerie Georg Nothelfer, Berlin, 1985, o.S.